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„Wenn ich heute darüber nachdenke, fühle ich mich noch immer schlecht. Dabei war das 1946 und ist schon so lange her. Da musste ich einer Mutter mit drei kleinen Kindern am Heiligen Abend verbieten, ihre Großeltern in Küchelscheid zu besuchen, nur weil eines der Kinder keinen gültigen Passierschein hatte. Ich hätte selbst weinen können, aber musste den harten Zöllner mimen. Nur wegen dieser leidigen Grenzgeschichte hier im Osten Belgiens.
Nach dem Ersten Weltkrieg musste Deutschland mit dem Versailler Vertrag die Kreise Eupen, Malmedy und St. Vith an uns Belgier abtreten. Kurzerhand übernahm Belgien 1921 dann auch den winzig schmalen Korridor, auf dem die Trasse der Vennbahn verlief und erklärte ihn zu belgischem Staatsgebiet.
Es entstanden fünf deutsche Exklaven, die nur durch wenige Meter der Bahntrasse von ihrem zugehörigen Staat getrennt wurden. Daran ändert auch der Zweite Weltkrieg nichts. Eher im Gegenteil: Nach 1945 waren die Grenzkontrollen besonders streng, die Abscheulichkeiten des Krieges waren einfach noch zu frisch. Kein Belgier wollte mit dem ehemaligen Feind ein einziges Wort reden, nicht auf Französisch, nicht auf Niederländisch und schon gar nicht auf Deutsch.
Sie müssen sich das einmal vorstellen: Die Leute brauchten damals für jeden Grenzübertritt einen Passierschein, selbst wenn sie zum Bahnhof gehen wollten; die Scheine waren aber immer nur 48 Stunden gültig. Fahrräder durften nicht ohne Erlaubnis über die Grenze mitgenommen werden, das hätte ja eine materielle Einfuhr nach Belgien bedeutet; der Organist aus Kalterherberg musste mir jedes Mal seine Sondergenehmigung vorzeigen, um auf belgischer Seite während der Messe die Orgel spielen zu können; die Bauern mussten jedes Mal die Grenze passieren, wenn sie ihre Wiesen bearbeiten wollten, weil die sich von einen auf den anderen Tag in einem anderen Land befanden.
Dabei war das Zusammenleben zwischen Deutschen und Belgiern im Alltag immer recht problemlos. Besonders Kalterherberg und Küchelscheid fühlten sich trotz Grenze immer wie ein Dorf. Das war besonders bei den Kindern spürbar, die sich aus dem Fußballverein, dem Musikverein oder der Kirchengemeinde kannten. Die Grenze gab es nur in den Amtsstuben. Aber von dort wurden wir Zöllner geschickt.
1995 waren Belgien und Deutschland dann unter den ersten neun Ländern der EU, in denen mit Inkrafttreten des Schengener Durchführungsabkommens die Grenzen wegfielen. Wir Grenzbeamten stehen seitdem nicht mehr hier – die Grenzsituation mit der Vennbahn jedoch blieb erhalten. Der Grund: Staatsrechtlich kann das nicht mehr rückgängig gemacht werden, weil die Staaten, die den Vertrag einst unterschrieben, in dieser Form nicht mehr existieren. Und so werden die fünf Exklaven auch weiterhin bestehen bleiben: als stumme Zeugen des Grenzwandels hier im Monschauer Land.“